Der 175. Ver­hand­lungs­tag im Münch­ner NSU-Prozess.

Die Keup­straße in München

Demonstranten mit Transparent: »Her yer. Keupstrasse ist überall. Für eine Gesellschaft ohne Rassismus«.20. Januar, der 175. Ver­hand­lungs­tag im Münch­ner NSU-Pro­zess.
Eine Reihe von Anschlags­op­fern aus der Köln-Mül­hei­mer Keup­straße wer­den heute und in den fol­gen­den Tagen befragt. Viele Men­schen wol­len die Ver­hand­lung in dem bun­ker­ar­ti­gen Raum A 101 des Jus­tiz­zen­trums ver­fol­gen, der Andrang ist groß. Die Zuschau­er­tri­büne hat nur 68 Plätze, Jour­na­lis­ten ist die Hälfte davon vor­be­hal­ten. Kein Platz bleibt unbe­setzt. Wer rein kom­men will, muss früh auf­ste­hen. Seit 6.00 Uhr war­ten in der Kälte die Eltern von San­dro D., die Mut­ter von Melih K. trifft spä­ter ein. Die Freunde San­dro D. und Melih K. sind sei­ner­zeit schwer ver­letzt wor­den. Ihre Aus­sa­gen sind auf den Vor­mit­tag terminiert.

Neun Busse, allein drei aus Köln, sind nachts durch­ge­fah­ren. Einige hun­dert Men­schen wol­len an den Aktio­nen vor dem Jus­tiz­zen­trum teil­neh­men. Sie tum­meln sich vor dem Laut­spre­cher­wa­gen und den Pavil­lons, Pla­kate, Trans­pa­rente, Berichte, Musik sind vor­be­rei­tet. Kutlu Yurts­even (Micro­phone Mafia), selbst Anwoh­ner auf der Keup­straße, rappt. Und er mode­riert die Vor­stel­lung von „Keup­straße ist über­all“. Erst 2013 gegrün­det, ach­tet die Initia­tive sorg­sam dar­auf, eine feste Ver­bin­dung mit den Anwoh­nern her­zu­stel­len. Mitat Özd­emir ist einer von ihnen.

Nach­mit­tags wächst die Menge. Schließ­lich bewe­gen sich 1400 Men­schen in einem Demons­tra­ti­ons­zug zum Send­lin­ger Tor. Vor­ne­weg Trans­pa­rente: „Keup­straße ist über­all“, „NSU-Ter­ror. Staat und Nazis Hand in Hand“. Darum geht es heute: Die Betrof­fe­nen sol­len nicht allein gelas­sen wer­den. Und immer wie­der wird die Frage gestellt: Wie­viel Staat steckt im NSU?

Am 9. Juni 2004, um 15.56 Uhr, war die Bombe mit 700 zwölf Zen­ti­me­ter lan­gen Nägeln in der Keup­straße vor dem Fri­seur­la­den explo­diert. 22 Men­schen wur­den verletzt.

San­dro D. und Melih K. hat­ten sich an die­sem son­ni­gen Nach­mit­tag, nichts Böses ahnend, einen Imbiss besorgt. Just als Melih in sei­nen Döner bei­ßen will, zieht ihm die Deto­na­tion die Beine weg. Er bleibt blu­tend lie­gen, mit neun Nägeln im Leib und Hun­der­ten von Glas­split­tern im Gesicht. Hel­fer löschen den bren­nen­den Haarschopf.

San­dro flüch­tet instink­tiv durch den Qualm hin­durch zur ande­ren Stra­ßen­seite auf eine Stufe im Haus­ein­gang. Ihn haben vier Nägel getrof­fen. Er ruft nach sei­nem Freund, kann aber die Ant­wort nicht hören. Er ist taub und nimmt die Szene wie einen Stumm­film wahr.

Melih sagt zum Rich­ter: „Knall, Licht aus, auf ein­mal bist Du in Texas.“

Beide wer­den noch am sel­ben Tag not­ope­riert, blei­ben tage­lang auf der Inten­siv­sta­tion. Poli­zei ver­hin­dert den Kon­takt der Freunde unter­ein­an­der, denn sie sind ver­däch­tig. Noch auf der Inten­siv­sta­tion wer­den sie ver­hört. Hat­ten sie das Fahr­rad vor dem Laden abge­stellt? Ging die Bombe womög­lich zu früh los? Woll­ten sie Schutz­geld erpressen?

Im die­sem Fall hätte der Täter den Fri­seur doch wohl per­sön­lich ange­grif­fen, statt die ganze Straße zu zer­stö­ren, sagt Melih. Den Anschlag müs­sen Nazis ver­übt haben, Aus­län­der­has­ser. „Um dar­auf zu kom­men, muss man kein Ermitt­ler sein!“ Bei­fall von der Zuschau­er­tri­büne. Den unter­bricht Rich­ter Götzl: „Sie hören nur zu!“ ord­net er an.

Aber in die­ser Minute blitzt Erkennt­nis auf, wo sich sonst detail­ge­naue und aus­führ­li­che Dar­stel­lun­gen tep­pich­ar­tig über die Wahr­neh­mung legen. Es klä­ren sich Fra­gen, die alle im Saal, aber auch drau­ßen, bewe­gen. Unschred­der­bare Fra­gen:
Warum war der Ver­fas­sungs­schutz­agent Temme am Tat­ort in Kas­sel? Wel­ches Inter­esse hatte der Ver­fas­sungs­schutz an der Akten­ver­nich­tung? Was wusste der Ver­fas­sungs­schutz? Wel­che bei­den Zivil­be­am­ten ver­folg­ten unmit­tel­bar nach der Tat das Gesche­hen in der Keup­straße? Wieso wur­den die Video­auf­nah­men erst nach dem Novem­ber 2011 aus­ge­wer­tet? Wer war der Täter in der Köl­ner Prob­stei­gasse? Wie­viele Täter waren es in Heil­bronn? Wer gehörte zum Netz­werk des NSU? Und: Wer gehört noch heute dazu? Warum haben am Tag des Anschlags die Innen­mi­nis­ter faschis­ti­sche Motive bestritten?

Sie­ben Jahre lang wur­den die Anwoh­ner der Keup­straße von den Behör­den ver­däch­tigt, den Anschlag selbst ver­übt zu haben. Man machte die Opfer zu Tätern. Jah­re­lang gab es Ver­höre, wurde Miss­trauen gesät, aber Rechts­ter­ro­ris­mus ausgeschlossen.

Die Bombe deto­nierte an jenem Tag um 15.56 Uhr. Zwei Stun­den danach berich­tete dpa. Schon der zweite Satz behaup­tete, es gebe „der­zeit keine Anzei­chen für einen ter­ro­ris­ti­schen Hin­ter­grund“. Noch um 17.09 Uhr hatte das Lan­des­kri­mi­nal­amt an das Düs­sel­dor­fer Innen­mi­nis­te­rium gemel­det, dass der Anschlag als „ter­ro­ris­ti­sche Gewalt­kri­mi­na­li­tät“ ein­zu­stu­fen sei. Um 17.25 Uhr erreichte das LKA-Lage­zen­trum NRW-Innen­mi­nis­ter Fritz Beh­rens. Nur 11 Minu­ten spä­ter, um 17.36 Uhr, weist das Innen­mi­nis­te­rium das Lan­des­kri­mi­nal­amt an, aus dem Schrift­ver­kehr den Begriff „ter­ro­ris­ti­scher Anschlag“ zu streichen.

Text: Klaus Stein
Foto: Gustl Ballin


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