40 Jahre Berufsverbot

28. Januar 2012: 40 Jahre Berufsverbot

Betrof­fene for­dern: end­lich Auf­ar­bei­tung und Rehabilitierung!

Vor 40 Jah­ren, am 28. Januar 1972, beschloss die Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz unter dem Vor­sitz von Bun­des­kanz­ler Willy Brandt den soge­nann­ten „Radi­ka­len­er­lass». Zur Abwehr angeb­li­cher Ver­fas­sungs­feinde soll­ten „Per­so­nen, die nicht die Gewähr bie­ten, jeder­zeit für die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung ein­zu­tre­ten“, aus dem öffent­li­chen Dienst fern­ge­hal­ten bzw. ent­las­sen wer­den. Mit­hilfe der „Regel­an­frage“

wur­den etwa 3,5 Mil­lio­nen Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber vom „Ver­fas­sungs­schutz“ auf ihre poli­ti­sche „Zuver­läs­sig­keit“ durch­leuch­tet. In der Folge kam es zu 11 000 offi­zi­el­len Berufs­ver­bots­ver­fah­ren, 2 200 Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren, 1250 Ableh­nun­gen von Bewer­bun­gen und 265 Ent­las­sun­gen. For­mell rich­tete sich der Erlass gegen „Links- und Rechts­extre­mis­ten“, in der Pra­xis traf er vor allem Linke: Mit­glie­der der Deut­schen Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei (DKP) und ande­rer sozia­lis­ti­scher und lin­ker Grup­pie­run­gen, von Frie­dens­in­itia­ti­ven bis hin zu SPD-nahen Stu­die­ren­den­or­ga­ni­sa­tio­nen. Mit dem Kampf­be­griff der „Ver­fas­sungs­feind­lich­keit“ wur­den miss­lie­bige und sys­tem­kri­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen und Per­so­nen an den Rand der Lega­li­tät gerückt, wurde die Aus­übung von Grund­rech­ten wie der Mei­nungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­frei­heit bedroht und bestraft. 

Der „Radi­ka­len­er­lass“ führte zum fak­ti­schen Berufs­ver­bot für Tau­sende von Men­schen, die als Leh­re­rin­nen und Leh­rer, in der Sozi­al­ar­beit, in der Brief­zu­stel­lung, als Lok­füh­rer oder in der Rechts­pflege tätig waren oder sich auf sol­che Berufe vor­be­rei­te­ten und bewar­ben. Bis weit in die 80er Jahre ver­gif­tete die staat­lich betrie­bene Jagd auf ver­meint­li­che „Radi­kale“ das poli­ti­sche Klima. Der „Radi­ka­len­er­lass“ diente der Ein­schüch­te­rung, nicht nur der akti­ven Lin­ken. Die exis­ten­ti­elle Bedro­hung durch die Ver­wei­ge­rung des erlern­ten oder bereits aus­ge­üb­ten Beru­fes war eine Maß­nahme der Unter­drü­ckung außer­par­la­men­ta­ri­scher Bewe­gun­gen ins­ge­samt. Statt Zivil­cou­rage wurde Duck­mäu­ser­tum gefördert.

Erst Ende der 80er Jahre zogen sozi­al­de­mo­kra­tisch geführte Lan­des­re­gie­run­gen die­Kon­se­quenz aus dem von Willy Brandt selbst ein­ge­räum­ten „Irr­tum“ und schaff­ten die ent­spre­chen­den Erlasse in ihren Län­dern ab. Einige der frü­her abge­wie­se­nen Anwär­te­rin­nen und Anwär­ter und zum Teil sogar aus dem Beam­ten­ver­hält­nis Ent­las­se­nen wur­den doch noch über­nom­men, meist im Ange­stell­ten­ver­hält­nis. Viele muss­ten sich aller­dings nach zer­mür­ben­den und jah­re­lan­gen Pro­zes­sen beruf­lich ander­wei­tig orientieren.

Heute gilt das All­ge­meine Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG), das eine Dis­kri­mi­nie­rung wegen poli­ti­scher Über­zeu­gun­gen ver­bie­tet. Damit wurde eine ent­spre­chende EU-Richt­li­nie umge­setzt. Doch ein öffent­li­ches Ein­ge­ständ­nis, dass der „Radi­ka­len­er­lass“ Unrecht war, unter­blieb. Er hat Tau­sen­den von Men­schen die beruf­li­che Per­spek­tive genom­men und sie in schwer­wie­gende Exis­tenz­pro­bleme gestürzt. Eine mate­ri­elle, mora­li­sche und poli­ti­sche Reha­bi­li­tie­rung der Betrof­fe­nen fand nicht statt.

Die Bedro­hung durch den „Radi­ka­len­er­lass“ gehört auch 2012 kei­nes­wegs der Ver­gan­gen­heit an: Im Jahr 2004 beleg­ten die Bun­des­län­der Baden-Würt­tem­berg und Hes­sen den Hei­del­ber­ger Real­schul­leh­rer Michael Csaszkóczy mit Berufs­ver­bot, weil er sich in anti­fa­schis­ti­schen Grup­pen enga­giert hatte. Erst 2007 wurde seine Ableh­nung für den Schul­dienst durch die Gerichte end­gül­tig für unrecht­mä­ßig erklärt.

Trotz­dem wird in Bay­ern von Bewer­be­rin­nen und Bewer­bern für den öffent­li­chen Dienst wei­ter­hin for­mu­lar­mä­ßig die Distan­zie­rung von Orga­ni­sa­tio­nen ver­langt, die vom „Ver­fas­sungs­schutz“ als „links­extre­mis­tisch“ dif­fa­miert wer­den. Und eine soge­nannte „Extremismus“-Klausel, die sich auf die Ideo­lo­gie und mehr als frag­wür­di­gen Ein­schät­zun­gen des „Ver­fas­sungs­schut­zes“ stützt, bedroht exis­ten­zi­ell die wich­tige Arbeit anti­fa­schis­ti­scher, anti­ras­sis­ti­scher und ande­rer demo­kra­ti­scher Projekte.

Eine poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung über die schwer­wie­gende Beschä­di­gung der demo­kra­ti­schen Kul­tur durch die Berufs­ver­bots­po­li­tik steht bis heute aus. Sie ist dring­li­cher denn je. Unter dem Vor­wand der Bekämp­fung des Ter­ro­ris­mus wer­den wesent­li­che demo­kra­ti­sche Rechte ein­ge­schränkt. Die in den letz­ten Mona­ten des Jah­res 2011 zu Tage getre­te­nen „Verfassungsschutz“-Skandale haben gezeigt, wie tief der Inlands­ge­heim­dienst ideo­lo­gisch und per­so­nell in die neo­na­zis­ti­sche Szene ver­strickt ist. Seit sei­ner Grün­dung im Jahr 1950 – unter Betei­li­gung von NS-Ver­bre­chern – hat der „Ver­fas­sungs­schutz“ an der Aus­gren­zung, Ein­schüch­te­rung und letzt­end­li­chen Kri­mi­na­li­sie­rung anti­fa­schis­ti­scher Poli­tik und lin­ker Oppo­si­tion gear­bei­tet. Die­ser anti­de­mo­kra­ti­sche Geheim­dienst ist nicht refor­mier­bar, er muss abge­schafft werden.

Der „Radi­ka­len­er­lass“ und die ihn stüt­zende Rechts­spre­chung blei­ben ein juris­ti­sches, poli­ti­sches und mensch­li­ches Unrecht. Wir als dama­lige Betrof­fene des „Radi­ka­len­er­las­ses“ for­dern von den Ver­ant­wort­li­chen in Ver­wal­tung und Jus­tiz, in Bund und Län­dern unsere voll­stän­dige Reha­bi­li­tie­rung. Die Bespit­ze­lung kri­ti­scher poli­ti­scher Oppo­si­tion muss ein Ende haben. Wir for­dern die Her­aus­gabe und Ver­nich­tung der „Verfassungsschutz“-Akten, wir ver­lan­gen die Auf­he­bung der dis­kri­mi­nie­ren­den Urteile und eine mate­ri­elle Ent­schä­di­gung der Betroffenen.

(Stand: 20. Novem­ber 2011)

Erst­un­ter­zeich­ne­rin­nen und ‑unter­zeich­ner:

  • Sig­rid Alt­herr-König (Ess­lin­gen)
  • Michael Csaszkóczy (Hei­del­berg)
  • Lothar Let­sche (Weinstadt/Tübingen)
  • Klaus Lipps (Baden-Baden)
  • Hans Schae­fer (Reut­lin­gen)
  • Wer­ner Sieb­ler (Frei­burg)