Lebens­laute im Flüchtlingslager

Unterm Kastanienbaum: Orchester und Zuhörer*innen. Im Hintergrund ein Lagergebäude. 

Lebens­laute in Nostorf-Horst

«Wir öff­nen das Tor mit Orches­ter und Chor
Lager auf­lö­sen! Men­schen­rechte verteidigen!»

Wo Meck­len­burg-Vor­pom­mern an Schles­wig-Hol­stein und Nie­der­sach­sen grenzt, sagen sich Hase und Fuchs gute Nacht. Eine ein­same Gegend. Gleich ent­fernt von Lau­en­burg und Boi­zen­burg an der Elbe liegt hier mit­ten im Wald das Erst­auf­nah­me­la­ger Nos­torf-Horst. Für Geflüch­tete ein lebens­feind­li­cher Ort. Die nächste Sied­lung mit einem Laden ist vier Kilo­me­ter ent­fernt. Die Flücht­linge leben hier zwangs­weise, häu­fig län­ger als ein Jahr in angst­vol­lem War­te­zu­stand. Ihre trau­ma­ti­sche Ver­gan­gen­heit inter­es­siert nie­man­den. Begeg­nun­gen mit Men­schen, die hier woh­nen, sind selten.

Essen wird zen­tral gelie­fert, selbst zu kochen ist nicht erlaubt. Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ist unzu­rei­chend, Ange­bote für Kin­der gibt es keine. Ins­be­son­dere die aus Meck­len­burg-Vor­pom­mern zuge­wie­se­nen Kin­der kön­nen nicht ein­mal zur Schule gehen. Die hygie­ni­schen Ver­hält­nisse sind man­gel­haft, es herr­schen Dau­er­lärm, erzwun­gene Untä­tig­keit und immer wie­der die große Angst, nachts unbe­merkt abge­scho­ben und in erneute Unsi­cher­heit außer Lan­des gebracht zu werden.

Nos­torf-Horst wird der zivil­ge­sell­schaft­li­chen Kon­trolle bewusst ent­zo­gen, für kri­ti­sche NGOs besteht sogar Haus­ver­bot. Die im Asyl­recht ver­an­kerte Bera­tung darf im Lager nicht ange­bo­ten wer­den. Das Lager hat sich zum Pro­to­typ eines See­hof­erschen Anker­zen­trums entwickelt.

Nun gibt es schon seit 1986 die Gruppe Lebens­laute. Das ist ein bun­des­wei­tes Netz­werk von Musikaktivist*innen, Laien und Pro­fis, die sich mit­tels klas­si­scher Musik an Orten, von denen Angst und Bedro­hung aus­geht, Gehör verschaffen.

Im ver­gan­ge­nen Jahr, August 2018, das wer­den nicht nur Köl­ne­rin­nen und Köl­ner erin­nern, gaben sie ein Kon­zert vor dem Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz. In die­sem Jahr haben sie sich das Lager Nos­torf-Horst aus­ge­sucht. Wie­der über­ra­schen sie. Sie kön­nen sich Zugang zum Gelände verschaffen.

Musikerinnen, Tanzende und Zuhörer*innen.

«Wir öff­nen das Tor mit Orches­ter und Chor
Lager auf­lö­sen! Men­schen­rechte verteidigen!»

Die Akti­ons­gruppe hatte ver­geb­lich bean­tragt, auf dem Gelände des Lagers zu spie­len. Das zustän­dige Lan­des­amt für innere Ver­wal­tung des Lan­des Meck­len­burg-Vor­pom­mern lehnte dies ab. Begrün­dung: Der Wohn­be­reich der Bewoh­ne­rIn­nen soll geschützt blei­ben – ein absur­des Argu­ment vor dem Hin­ter­grund, dass immer wie­der nachts poli­zei­li­che Zim­mer­durch­su­chun­gen stattfinden.

Lebens­laute hält daran fest, im Inne­ren des Lagers spie­len zu wol­len. Die 90 Musik­ak­ti­vis­tIn­nen neh­men in Kauf, zivi­len Unge­hor­sam zu leis­ten und wegen Haus­frie­dens­bruchs ver­ur­teilt zu wer­den. Sie wis­sen von einem Bewoh­ner, dass sie will­kom­men sind. Und sie schaf­fen es, alle Musi­ke­rIn­nen kom­men auf das Gelände! Nur ein klei­ner Trupp ist drau­ßen geblie­ben und macht Musik vor dem Haupt­ein­gang des Camps. Ein Ablen­kungs­ma­nö­ver. Der Sicher­heits­dienst ist ver­dutzt. «Ihr habt euch um einen Tag ver­tan!» Es ist Sams­tag, der 17. August.

Lebens­laute: «In der Tat wer­den wir erst am mor­gi­gen Sonn­tag um 12 Uhr erwar­tet, für ein offi­zi­ell ange­mel­de­tes Kon­zert vor dem Camp. Wir haben 70 Zuhö­re­rIn­nen! Gerade begrü­ßen wir unser Publi­kum. In acht Spra­chen stel­len wir uns den Bewoh­ne­rIn­nen vor und über­brin­gen unsere For­de­run­gen an das Land Meck­len­burg-Vor­pom­mern und die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Leb­haf­ter Applaus. Die Men­schen ver­ste­hen, warum wir hier sind. Das erste Lied erklingt: ‹El Porom­pom­pero›. Unser Ablen­kungs­trupp vor dem Tor greift es auf. So hat auch unser Pres­se­bus, der an sel­ber Stelle steht, Musik. Gerade über­zeu­gen sich zwei Sicher­heits­be­amte von der Fried­lich­keit unse­res Vor­ha­bens. Drin­nen ertönt ‹Go down, Moses!› Alle genie­ßen die ent­spannte Atmo­sphäre. Nun fah­ren zwei Poli­zis­ten in einem Strei­fen­wa­gen aufs Gelände. Zeit­gleich ertönt im Inne­ren Ver­dis Gefan­ge­nen­chor. Der Ablen­kungs­trupp drau­ßen singt mit. Nun sind die Musi­zie­ren­den schon beim Men­schen­rechte-Kanon. Alle Men­schen sind frei! Joh­len und Applaus im Inne­ren, Gejohle auch drau­ßen. Wir kön­nen unser Kon­zert von der Poli­zei unge­stört been­den. Zum Abschluss spielt das Orches­ter Dvořáks ‹Furi­ant›. Der Rhyth­mus die­ses sla­wi­sche Tanz fährt allen in die Glie­der. Chor und Flücht­linge sin­gen und tan­zen zusammen.

Mor­gen um 12 Uhr kom­men wir wie­der und spie­len unser offi­zi­ell geneh­mig­tes Sonn­tags­kon­zert, dies­mal vor den Toren des Lagers. Dabei wie­der­ho­len wir unsere For­de­rung: Lager Horst schlie­ßen, Men­schen­rechte verteidigen.»

 
Wir, die DKP Gruppe Köln Innen­stadt, erfah­ren von der Aktion durch Eras­mus Schö­fer, der dabei war.

Klaus Stein
Quelle und Fotos: Lebens­laute
Lebens­laute musst Gesich­ter wegen «ord­nungs­recht­li­cher Vor­ga­ben» unkennt­lich machen.