Immer mit­ten­drin

Einer, der uns viel zu sagen hat, wird 90

Erasmus mit Paula Keller in Coronamontur während der Friedenskundgebung am 5. Dezember 2020 auf dem Roncalliplatz in Köln.
Eras­mus mit Paula Kel­ler in Coro­na­mo­n­tur wäh­rend der Frie­dens­kund­ge­bung
am 5. Dezem­ber 2020 auf dem Ron­cal­li­platz in Köln.
Foto: Klaus Stein

Wer wis­sen will, was uns 1968 und danach bewegt hat, wel­ches Niveau die Kämpfe erreich­ten und wie uns dabei zumute war, kommt an Eras­mus Schö­fer und der Lek­türe sei­nes Roman­zy­klus› «Die Kin­der des Sisy­fos» nicht vor­bei. Seine vier Romane umfas­sen mehr als zwei Jahr­zehnte bun­des­deut­scher Geschichte und enden mit dem Jah­res­wech­sel 198990. 2000 Seiten.

Viel, aber kon­zen­trier­ter Stoff. Eras­mus Schö­fer weiß, wovon er schreibt, denn er war dabei.

„Ein Früh­ling irrer Hoff­nung“ beginnt mit den Oster­un­ru­hen in Mün­chen. Nach­dem ein jun­ger Nazi auf Rudi Dutschke geschos­sen hatte, wird über­all in der Bun­des­re­pu­blik die Aus­lie­fe­rung der BILD-Zei­tung blo­ckiert. „da schwirr­ten in Kreuz­berg die Flo­cken weiß in den Land­wehr­Ka­nal am grauen Mor­gen ins schwarze Was­ser zur BILD­Zei­tung, die Über­schrift ein hal­bes Jahr­hun­dert nach der Ent­haup­tung der Revo­lu­tion frisch auf­ge­legt: Bür­ger macht Schluss mit dem Spuk, ich seh vom Gelän­der seh ich die ver­gessne Lei­che trei­ben zum Moa­bi­ter Wehr, hing im Rechen verwest“.

Die han­deln­den Per­so­nen sind häu­fig Genos­sin­nen und Genos­sen der ver­bo­te­nen KPD und der just gegrün­de­ten DKP. Der Punkt, von dem aus die Ereig­nisse gese­hen und in Spra­che gefasst wer­den, ist sel­ten. Es ist unser Blickwinkel.

Im „Zwie­licht“ erle­ben wir, wie sich in Kal­kar, Brok­dorf und Wyhl der Wider­stand gegen Atom­kraft­werke ent­wi­ckelt. Aber zu lesen ist auch die „Rede eines Ungül­ti­gen“. Leh­rer Vik­tor Bliss spricht über Berufs­ver­bote und die Rebel­len im Wyh­ler Wald. „Was? Rebel­len nennt der uns? Wir sind ein­fa­che Bür­ger, Haus­frauen, Win­zer, Land­wirte, die ihr Recht auf eine unzer­störte Hei­mat ver­tei­di­gen! Natür­lich, das stimmt. Aber ich möchte behaup­ten: ihr habt mit eurer Beset­zung eine humane Ver­nunft bewie­sen, eine Ver­nunft, die nicht fragt: wie lau­tet das Gesetz, mit dem sich die Will­kür ver­klei­det, son­dern was sind unsre unver­äu­ßer­li­chen Men­schen­rechte und wie müs­sen wir sie gegen die Anma­ßung der Mäch­ti­gen verteidigen.“

Die Glas­hütte Süß­muth in Hes­sen ver­wal­ten die Arbei­ter schon selbst. Armin Kolenda inter­viewt sie. In Düs­sel­dorf-Reis­holz wird das Man­nes­mann-Röh­ren­werk dicht gemacht. Die Arbei­ter weh­ren sich. Revo­lu­tio­näre ent­ste­hen aus die­sen Kämp­fen noch nicht. „Über­all konnte man hin­rei­sen, sogar in die DDR, aber nicht auf die Tau­sende von extra­ter­ri­to­ria­len Gebie­ten im eige­nen Land, auf denen von Lands­leu­ten Kano­nen, Kühl­schränke und Wie­ner Würst­chen in Dosen her­ge­stellt wurden.“

Sol­che Ter­ri­to­rien sind heute so unzu­gäng­lich wie je. Wäh­rend Pri­vat­heit zur gän­gi­gen Ware, elek­tro­nisch ermit­telt und auf­be­rei­tet wird, blei­ben die lebens­wich­ti­gen Umstände arbeits­tei­li­ger bis glo­ba­ler Pro­duk­tion hin­ter Steu­er­ge­heim­nis­sen, Patent­re­geln und ande­ren Eigen­tums­rech­ten verhüllt.

In den sieb­zi­ger Jah­ren bli­cken „Werk­kreise Lite­ra­tur der Arbeits­welt“ hin­ter die Werks­tore. Mit­be­grün­der Eras­mus Schö­fer reibt sich darin auf. Die Auf­gabe: „nicht nur die betrieb­li­che Arbeits­welt zum Thema der Lite­ra­tur machen, son­dern die Betrof­fe­nen selbst ermu­ti­gen und in ört­li­chen Werk­stät­ten befä­hi­gen, sich schrei­bend mit ihrer gesam­ten Lebens­welt und den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen aus­ein­an­der zu set­zen.“ Arbei­tern wurde die Mög­lich­keit ver­schafft, „öffent­lich sicht­bar zu machen, was sie zum Reden und Schrei­ben drängte“ (David Salomon).

Als Taschen­buch­reihe erschei­nen zwi­schen 1973 und 1988 über 60 Bände mit Roma­nen, Geschich­ten und Gedich­ten in einer Gesamt­auf­lage von weit über einer Mil­lion. „Der rote Groß­va­ter erzählt“ von 1974 ent­hält die Geschichte der Moor­sol­da­ten und ihres Lie­des. So nimmt das Publi­kum davon Kennt­nis. Ein Werk­kreis-Semi­nar erkennt: Lie­bes­be­zie­hun­gen sind „frei­lich gesell­schafts­ab­hän­gig.“ Es folgt der Band „Lie­bes­ge­schich­ten“. Im Nach­wort heißt es, dass auch die „mensch­li­chen Lie­bes­be­zie­hun­gen von der Sphäre der Pro­duk­tion her struk­tu­riert werden.“

Im „Zwie­licht“ wer­den die Werk­kreise zum Thema. Der fik­tive Kolenda inter­viewt den rea­len Schöfer.

Aber es geht auch umge­kehrt. Den fik­ti­ven Vik­tor Bliss zitiert Eras­mus Schö­fer am 30. Okto­ber 2019 auf dem rea­len Podium im Deut­zer Bür­ger­zen­trum. Mat­thias Birk­wald hat namens der Bun­des­tags­frak­tion der Links­par­tei zu einer Ver­an­stal­tung ein­ge­la­den: „Anti­kom­mu­nis­mus und Recht, das KPD-Ver­bot und die Fol­gen“. Bliss: „Ich bin einer von denen, die neun­zehn­hun­dert acht­und­sech­zig, spät, sehr spät, an jenem ers­ten demo­kra­ti­schen Auf­bruch der kri­ti­schen Geis­ter die­ser Repu­blik teil­ge­nom­men haben. Das war die große Lehr­zeit für viele, die in der Schule nichts erfah­ren haben über die schreck­li­che, unver­daute Ver­gan­gen­heit Deutsch­lands und über den Wie­der­auf­bau der alten Herr­schafts­ver­hält­nisse, die unsre Eltern und Groß­el­tern in die Dik­ta­tur und zwei Welt­kriege geführt hat­ten. Wir woll­ten die schlei­chende Aus­höh­lung brem­sen, rück­gän­gig machen, die unsre demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung von neun­zehn­hun­dert neun­und­vier­zig befal­len hatte – des­halb haben wir die Stra­ßen zu unserm Mas­sen­me­dium gemacht.“

Neben Eras­mus sitzt die Genos­sin Chris­tine. Sie erzählt von Ille­ga­li­tät und Haft in den sech­zi­ger Jah­ren. Für das junge Publi­kum im Saal sind das Neuigkeiten.

Bliss flieht im drit­ten Band nach Grie­chen­land, er begeht „Som­mer­flucht“. Sie bekommt ihm nicht. Im vier­ten Band, der „Win­ter­däm­me­rung“ sind wir Zeuge des Wider­stands gegen den Bau der Start­bahn West. Und es geht gegen die Sta­tio­nie­rung der Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten. Um die 35-Stun­den-Woche. Gewerk­schafts­funk­tio­när Han­nes Son­ne­feld bringt die Toch­ter sei­ner Freun­din um und sich selbst. Stahl­ar­bei­ter kämp­fen gegen die Schlie­ßung der Rhein­hau­se­ner Hütte. Sil­ves­ter 1989 wird am Bran­den­bur­ger Tor das Ende der DDR fah­nen­schwen­kend beju­belt. Am Kran in Rhein­hau­sen hofft noch ein „roter Fetzen“.

Eras­mus Schö­fer ist stu­dier­ter Phi­lo­soph und gelern­ter Arbei­ter. Und er hat noch viel zu sagen. Gerne zu uns, sei­nen Freun­den der DKP Gruppe Köln-Innen­stadt. Als es um die Geschichte der For­ma­ti­ons­theo­rie und die schwie­rige Frage ging, was Fort­schritt sei, las er uns eine Erzäh­lung vor. Sie spielt 1975 in Lenin­grad. Eine unent­wi­ckelte Lie­bes­af­färe vor dem Hin­ter­grund sehr unter­schied­li­cher poli­ti­scher Erfah­run­gen sowje­ti­scher und west­li­cher Kom­mu­nis­ten. Wie sind die sowje­ti­schen Kom­mu­nis­ten mit der durch Sta­lin­sche Herr­schafts­me­tho­den und Ver­bre­chen ver­bo­ge­nen Par­tei umgegangen?

Am 4. Juni wird Eras­mus 90 Jahre alt. Wach wie je.

Klaus Stein


Immer mit­ten­drin (als pdf in neuem Fenster)


Die Roman-Tetra­lo­gie „Die Kin­der des Sisy­fos“ ist im Dittrich Ver­lag erschie­nen – fünf Bände inklu­sive Begleit­band, 39,90 Euro.
Zum Geburts­tag ist ein schön gestal­te­ter Band mit Gedich­ten Eras­mus Schö­fers erschie­nen mit dem Titel «Sisy­fos Lust. Lau­ter ewige Lie­ben». Er ist zu bezie­hen bei Ilse und Ulrich Strae­ter, Joseph-Lenné-Straße 3, 45131 Essen, Tel. 0201 421226, E‑Mail straeter-kunst@t‑online.de


Eras­mus Schö­fer 90 Jahre! (wei­tere Fotos)
wei­tere Links
Eras­mus Schö­fer Der Autor (fast) trans­pa­rent
Eras­mus Schö­fer im «Lite­ra­tur­haus Köln» (auf dkp-rheinland-westfalen.de)
Kin­der des Sisy­fos Freun­des­kreis Eras­mus Schö­fer e.V.