Der Staats­streich in Bolivien

Frau mit Fahne.

Eine gute
Gele­gen­heit
für die
mul­ti­na­tio­na­len
Berg­bau-Kon­zerne

Von C. J. Atkins

Die linke US-ame­ri­ka­ni­sche Online-Zei­tung «People’s World» ver­öf­fent­lichte am 11. Novem­ber 2019 den nach­fol­gen­den Arti­kel ihres Redak­ti­ons­lei­ters C. J. Atkins, zu eini­gen Hin­ter­grün­den des Staats­streichs in Bolivien:

Arbeits­über­set­zung

Lithium ist der Haupt­be­stand­teil für Bat­te­rien, die die Umstel­lung der Welt auf Elek­tro­au­tos und Smart­phones gebraucht wer­den. Markt­ana­lys­ten spe­ku­lie­ren dar­über, dass bis Mitte der 2020er Jahre das Ange­bot an Lithium kaum aus­rei­chend sein wird, um die Nach­frage von Auto- und Mobil­ge­rä­te­her­stel­lern zu befrie­di­gen. Es wird das «Gold des 21. Jahr­hun­derts» genannt.

Boli­vi­ens größ­ten­teils unge­nutzte Saline Salar de Uyuni, hoch in den Anden gele­gen (der mit rd. 10 000 km2 Flä­che größte tro­cken­ge­fal­lene Salz­see der Erde, Übers.), ent­hält nach Schät­zun­gen zwi­schen 25 und 45 Pro­zent der welt­weit bekann­ten Reser­ven die­ses Stof­fes: Die Regie­rung von Evo Mora­les war dabei, eine Lithium-Indus­trie in öffent­li­chem Eigen­tum auf­zu­bauen, um die Wirt­schaft des Lan­des zu diver­si­fi­zie­ren und mehr Men­schen aus der Armut zu brin­gen. Bemü­hun­gen mul­ti­na­tio­na­ler Berg­bau­kon­zerne aus den USA, Kanada, Süd­ko­rea und ande­ren Län­dern, an das kost­bare Metall her­an­zu­kom­men, sind weit­ge­hend ins Sto­cken gera­ten. Ein Joint Ven­ture mit einer deut­schen Firma war letzte Woche von der boli­via­ni­schen Regie­rung annul­liert wor­den wegen der Besorg­nis, dass nicht genug dabei her­aus­kommt für die indi­gene Bevöl­ke­rung, die in der Nähe von Uyuni lebt. Chi­ne­si­sche und rus­si­sche Fir­men gehör­ten zu den weni­gen, die Ver­träge unter­zeich­net haben.

Ange­sichts des Schick­sals von schon allzu vie­len fort­schritt­li­chen Regie­run­gen in die­sem Teil der Welt im letz­ten Jahr­hun­dert war der nächste Teil der Geschichte lei­der völ­lig vor­her­seh­bar. An die­sem Wochen­ende wurde die Regie­rung des boli­via­ni­schen Prä­si­den­ten Evo Mora­les durch einen Mili­tär­putsch gestürzt.

Wäh­rend noch zu wenig Details bekannt sind, um eine direkte Linie von den Inter­es­sen der Roh­stoff­gi­gan­ten zu den Ereig­nis­sen der letz­ten Tage zu zie­hen, zeigt der Sturz der Mora­les-Regie­rung durch das Mili­tär, beju­belt von der Trump-Regie­rung der USA, von der Tru­deau-Regie­rung in Kanada und von der USA-domi­nier­ten Orga­ni­sa­tion Ame­ri­ka­ni­scher Staa­ten (OAS), das gefähr­li­che Risiko für jedes res­sour­cen­rei­che kleine Land, das ver­sucht, einen Weg in der Wirt­schafts­po­li­tik ein­zu­schla­gen, der die Armen und die Arbei­ter­klasse begüns­tigt gegen­über den For­de­run­gen der Rei­chen, der Groß­un­ter­neh­men und der impe­ria­lis­ti­schen Staaten.

Nach tage­lan­gen rechts­ge­rich­te­ten Demons­tra­tio­nen im Ergeb­nis der Wie­der­wahl von Mora­les im Okto­ber machte am Sonn­tag­abend das Mili­tär sei­nen Zug mit der Ankün­di­gung von Gene­ral Wil­liams Kall­man; dass Ope­ra­tio­nen der Armee und der Luft­waffe im Gang seien. Er for­derte, dass der Prä­si­dent sein Amt auf­gibt, um «die Sta­bi­li­tät auf­recht­zu­er­hal­ten». Die gewalt­sa­men Bestre­bun­gen, Mora­les zu ver­trei­ben, hat­ten regio­nal ihre Basis in der wohl­ha­ben­de­ren Pro­vinz Santa Cruz, wo der Anfüh­rer der Oppo­si­tion, Fer­nando Cama­cho, und andere extre­mis­ti­sche rechte Ele­mente sich orga­ni­siert haben gegen die Errun­gen­schaf­ten der Indi­ge­nen- und Mes­ti­zen-Mehr­heit unter Morales.

Als auch die Poli­zei am spä­ten Sonn­tag­abend zum Putsch über­ging und ihre Pos­ten vor den Regie­rungs­ge­bäu­den ver­ließ, war Mora­les bemüht, wei­tere Gewalt gegen das boli­via­ni­sche Volk zu ver­hü­ten, und trat zurück. Er gab sei­nen Rück­tritt bekannt im Fern­se­hen der Pro­vinz Chapare, wo er vor Jah­ren erst­mals auf­ge­tre­ten war als Gewerk­schafts­füh­rer, wobei er sagte: «Ich kehre zurück zu mei­nem Volk, das mich nie­mals ver­las­sen hat. Der Kampf geht weiter.»

Mora­les hatte die Wahl im letz­ten Monat mit mehr als zehn Pro­zent Vor­sprung gewon­nen und sei­nen rech­ten Her­aus­for­de­rer, den frü­he­ren Prä­si­den­ten Car­los Mesa mit 47 zu 36 % geschla­gen. Der Kan­di­dat einer drit­ten Par­tei bekam die rest­li­chen Stim­men. Mesa war Prä­si­dent von 2003 – 2005, nach­dem er zuvor als Vize­prä­si­dent in der Regie­rung von Prä­si­dent Gon­zalo San­ches de Lozada gedient hatte. Letz­te­rer war durch Mas­sen­pro­teste der Bevöl­ke­rung gegen seine Pläne, Boli­vi­ens aus­ge­dehnte Erd­gas­re­ser­ven an aus­län­di­sche Unter­neh­men zu ver­kau­fen, gestürzt wor­den. Das von ihm vor­ge­schla­gene Geschäft hätte dem boli­via­ni­schen Volk nur wenig Gewinn über­las­sen und war von sozia­len Akti­vis­ten und indi­ge­nen Grup­pen als die Fort­set­zung der lan­gen Aus­beu­tung des Lan­des durch impe­riale Mächte ver­ur­teilt wor­den – unter­stützt von ört­li­chen Ver­tre­tern der Wirtschaft.

Zu denen, die die Pro­teste wäh­rend der «Gas­kriege» orga­ni­siert hat­ten, gehörte Mora­les, der 2005 an der Spitze der Par­tei «Movi­mi­ento al Socia­lismo» (MAS – «Bewe­gung für Sozia­lis­mus») zum ers­ten indi­ge­nen Prä­si­den­ten Boli­vi­ens gewählt wor­den ist. Eine sei­ner ers­ten Hand­lun­gen nach sei­nem Amts­an­tritt war die voll­stän­dige Natio­na­li­sie­rung der Koh­len­was­ser­stoff­res­sour­cen des Lan­des. Das war ein Ver­bre­chen gegen den Kapi­ta­lis­mus, das viele Berg­bau- und Roh­stoff­kon­zerne nie­mals ver­zie­hen haben.

Mit dem aus der nun ver­staat­lich­ten Roh­stoff­in­dus­trie stam­men­den Geld star­tete die Regie­rung Mora­les ein mas­si­ves – und erfolg­rei­ches – Pro­gramm zur Armuts­be­kämp­fung. Gemäß den vom Cen­ter for Eco­no­mic und Policy Rese­arch (US-ame­ri­ka­ni­sches «Zen­trum für wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche For­schun­gen») gesam­mel­ten Daten war das Wirt­schafts­wachs­tum in Boli­vien in den Jah­ren der Mora­les-Regie­rung dop­pelt so hoch wie sonst in Latein­ame­rika und der Karibik.

Ehe die MAS an die Macht kam, hatte die Regie­rung Boli­vi­ens küm­mer­li­che 731 Mil­lio­nen Dol­lar an jähr­li­chen Ein­nah­men aus der Koh­len­was­ser­stoff­vor­kom­men her­aus­ge­holt. Nach der Ver­staat­li­chung wuchs diese Summe um mehr als das Sie­ben­fa­che auf 4,95 Mil­li­ar­den. Mit den in den meis­ten Jah­ren erreich­ten Über­schüs­sen und dem zuneh­men­den Han­del mit ande­ren lin­ken Regie­run­gen in der Region war Boli­vien in der Lage, ein Maß an öko­no­mi­scher Unab­hän­gig­keit zu errei­chen, wie es sie vor­her nie gehabt hat.

Der Pro­zent­satz der in Armut leben­den Bevöl­ke­rung sank von enor­men 60 Pro­zent auf 35 Pro­zent im Jahr 2018, wäh­rend die Zahl der Men­schen in extre­mer Armut in der glei­chen Zeit von fast 38 Pro­zent auf 15 Pro­zent zurück­ging. Dies wurde erreicht nicht allein durch die Natio­na­li­sie­rung der Roh­stoff­vor­kom­men, son­dern durch eine Kom­bi­na­tion von Umverteilungs‑, Lohn- und Inves­ti­ti­ons­po­li­tik und die Ableh­nung erpres­se­ri­scher For­de­run­gen des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds (IWF).

Die Refor­men der Mora­les-Jahre gin­gen weit über das rein Wirt­schaft­li­che hin­aus. Die indi­ge­nen Völ­ker in Boli­vien erreich­ten neue Aner­ken­nung und Respekt, ihre Spra­chen kamen end­lich in die Lehr­pläne der öffent­li­chen Schu­len. Der ver­hee­rende «Krieg gegen die Dro­gen», der weite Land­stri­che ver­wüs­tet und das Leben der Klein­bau­ern rui­niert hatte, wurde ein­ge­stellt. Der Coca-Anbau – der medi­zi­ni­schen und ande­ren Zwe­cken weit über die Her­stel­lung von Kokain hin­aus diente – wurde lega­li­siert, und die Dro­gen­be­kämp­fung wurde wie­der auf den Han­del damit kon­zen­triert. Die Ver­fas­sungs­re­form von 2009 machte den Sta­tus Boli­vi­ens als eines plu­ri­na­tio­na­len säku­la­ren Staa­tes vie­ler Völ­ker und Natio­na­li­tä­ten offi­zi­ell und tat damit einen gro­ßen Schritt vor­wärts bei der Been­di­gung der Vor­herr­schaft einer EU-abhän­gi­gen Élite im öffent­li­chen Leben.

Trotz der beein­dru­cken­den Fort­schritte bei der Anhe­bung des Lebens­stan­dards und der Ein­kom­men für die Masse der boli­via­ni­schen Arbei­ter­klasse und ins­be­son­dere seine indi­ge­nen Völ­ker blieb Boli­vien ein armes Land – etwas, woran die Mora­les-Regie­rung noch immer arbei­tete, um es zu überwinden.

Anstren­gun­gen zur Diver­si­fi­zie­rung der Wirt­schaft des Lan­des weg von einer über­mä­ßi­gen Abhän­gig­keit vom Gas wur­den unter­nom­men, ein­schließ­lich der Stei­ge­rung der land­wirt­schaft­li­chen Erträge, um Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät zu errei­chen, und des Stre­bens danach, eine Füh­rungs­rolle auf dem inter­na­tio­na­len Lithi­um­bat­te­rien-Markt zu übernehmen.

Es war diese Art von Pro­gramm, was Mora­les und die MAS in den Wahl­kampf im Okto­ber 2019 ein­brach­ten. Aber noch bevor die erste Stimme aus­ge­zählt war, ver­kün­de­ten die USA- und die rech­ten Regie­run­gen in Kolum­bien und Bra­si­lien bereits, dass sie das Ergeb­nis einer Wahl nicht aner­ken­nen wer­den, das nicht «den Wil­len des boli­via­ni­schen Vol­kes» wider­spie­gelt. Auch die Her­an­ge­hens­weise der inter­na­tio­na­len Finanz­in­sti­tu­tio­nen ist in ähn­li­cher Weise bereits seit Jah­ren in Stein gemeißelt.

Der iWF hat sich kon­se­quent auf die Seite von Mesa gestellt, als er vor 16 Jah­ren Prä­si­dent war, und Kre­dite ver­ge­ben auf der Grund­lage sei­nes Ver­spre­chens, nie­mals mit einer öffent­li­chen Über­nahme von Roh­stoff­quel­len zu dro­hen. Die US-Regie­rung war gleich­falls nie­mals schwan­kend bei ihrer Unter­stüt­zung, für die von Mesa reprä­sen­tierte Kom­pra­do­ren-Cli­que und drohte mit der Ein­stel­lung der Finanz­hilfe für Boli­vien schon 2002 bei einer frü­he­ren Kan­di­da­tur von Mora­les für die Präsidentschaft.

Mesa war ein zuver­läs­si­ger Ver­wal­ter im Namen der mul­ti­na­tio­na­len Berg­bau­kon­zerne und der Durch­set­zer der neo­li­be­ra­len Ortho­do­xie von IWF und Washing­ton. Mora­les war das genaue Gegen­teil, der 2006 sagte:

«Der schlimmste Feind der Mensch­heit ist der US-Kapi­ta­lis­mus. Das ist es, was Auf­stände wie unse­ren her­vor­ruft, eine Rebel­lion gegen das Sys­tem, gegen das neo­li­be­rale Modell, das die Aus­prä­gung eines wil­den Kapi­ta­lis­mus ist. Wenn die ganze Welt diese Rea­li­tät nicht zur Kennt­nis nimmt, dass Natio­nal­staa­ten nicht ein­mal mini­mal für Gesund­heit, Bil­dung und Ernäh­rung sor­gen, dann wer­den jeden Tag die grund­le­gends­ten Men­schen­rechte verletzt.»

Damit blieb er sowohl ein Feind aus­län­di­scher Unter­neh­men als auch der frü­he­ren Regie­run­gen, die sie wäh­rend ihrer gesam­ten Amts­zeit unter­stütz­ten. Sein Sturz hat nun den letz­ten aus der ursprüng­li­chen Gene­ra­tion der Anfüh­rer der «rosa Welle» in Latein­ame­rika besei­tigt, die von Mas­sen­be­we­gun­gen getra­gen waren, die eine andere Zukunft for­der­ten als die von neo­ko­lo­nia­lis­ti­schen und impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten für sie geplante.

Eine Zeit gro­ßer Unge­wiss­heit las­tet nun über Boli­vien, da die Erin­ne­rung an die Unter­drü­ckung, die ver­gan­gene Mili­tär­put­sche beglei­tete, in der Gegen­wart umgeht. Es ist unklar, wer in der unmit­tel­bar nächs­ten Zeit als das Gesicht des neuen Putsch­re­gimes auf­tritt (Mesa, Cama­cho oder jemand ande­res), und eben­falls unbe­kannt ist das Aus­maß, in dem die MAS und die boli­via­ni­sche Arbei­ter­klasse fähig sein wer­den, dem jetzt gegen sie und ihre Demo­kra­tie in Gang gesetz­ten Kom­plott Wider­stand zu leis­ten. Die MAS ver­fügt noch über die Mehr­hei­ten in bei­den Kam­mern der Gesetz­ge­ben­den Versammlung.

Auf jeden Fall hat der Staats­streich für die unmit­tel­bar nächste Zeit die Hoff­nun­gen auf eine im öffent­li­chen Eigen­tum befind­li­che ´Lithium-Indus­trie zunichte gemacht, die Boli­vien ins 21. Jahr­hun­dert geführt und noch viel mehr Mit­tel für die Schaf­fung von Arbeits­plät­zen und die Bekämp­fung der Armut her­vor­ge­bracht hätte. Wenn die Tes­las und IPho­nes die­ser Welt mit boli­via­ni­schem Lithium bestückt wer­den, wird das wohl wenig Nut­zen für das Volk die­ses Lan­des abwer­fen. Die Berg­bau­kon­zerne dür­fen sich freuen.

Quelle: People’s World
über­setzt von Georg Polikeit


  • C.J. Aktins besitzt einen Dok­tor­ti­tel der Poli­ti­schen Wis­sen­schaf­ten der York Uni­ver­si­tät in Toronto (Kanada). Er arbei­tete als For­scher und Leh­ren­der in Poli­ti­scher Öko­no­mie und Poli­tik und Ideo­lo­gie der ame­ri­ka­ni­schen Linken.
  • «People’s World» als Inter­net-Auf­tritt ent­stand in der Nach­folge der 1924 von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei der USA (CPUSA) her­aus­ge­ge­be­nen Zei­tung «Daily Worker» und nach­fol­gen­der ande­rer lin­ker Tages- und Wochen­zei­tun­gen. Sie bezeich­net sich heute als «Stimme für pro­gres­si­ven Wan­del und Sozia­lis­mus in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten» und als «täg­li­che Nach­rich­ten-Platt­form und Stimme für die Arbei­ter, Arbeits­lo­sen, Far­bi­gen, Immi­gran­ten, Frauen, Jugend­li­chen, Senio­rin­nen und Senio­ren, LGBTQ (Les­ben Schwule, Trans­gen­der usw.), Kul­tur­ar­bei­ter, Stu­den­ten und Men­schen mit Behin­de­run­gen». Sie ver­breite auch wei­ter­hin «mar­xis­ti­sche Ana­ly­sen und von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei ent­wi­ckelte Mei­nun­gen wie auch Stim­men von ande­ren Strö­mun­gen der Arbei­ter- und Volksbewegung».
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