Armut: poli­tisch gewollt und geplant

Die Wohl­fahrts­ver­bände haben am 23. Februar ihren jähr­li­chen Armuts­be­richt vor­ge­legt. Ergeb­nis: die Armut in Deutsch­land bleibt hoch, obwohl Regie­rung und herr­schende Medien immer wie­der von guter Kon­junk­tur, hoher Beschäf­ti­gung und stei­gen­dem Reich­tum spre­chen. 12,5 Mil­lio­nen Men­schen, 15,4% (0,1% weni­ger als im Jahr 2013) der Bevöl­ke­rung, also jeder sechste bis siebte Bewoh­ner Deutsch­lands war im Jahr 2014 arm. In Ber­lin und Nord­rhein-West­fa­len sind die Armuts­quo­ten seit 2006 kon­ti­nu­ier­lich gestie­gen und die Armut dop­pelt so stark gewach­sen wie im Rest der Repu­blik. Im Ruhr­ge­biet ist jeder Fünfte arm. In Dort­mund fal­len 21,4% unter die Armuts­grenze, in Düs­sel­dorf 16,3%, in Köln 17,5%. Hier wuchs die Armut in den ver­gan­ge­nen sie­ben Jah­ren um 31,6%. Der Groß­raum Köln/Düsseldorf mit sei­nen fünf Mil­lio­nen Men­schen werde sich in den nächs­ten Jah­ren womög­lich als neue Pro­blem­re­gion neben dem Ruhr­ge­biet entwickeln.

Haupt­ri­si­ko­grup­pen sind Allein­er­zie­hende und Erwerbs­lose. Und neu­er­dings Rent­ne­rin­nen und Rent­ner. Deren Armuts­quote, sagen die Wohl­fahrts­ver­bände, ent­wickle sich rasant. Es sind 3,4 Mil­lio­nen = 15,6%. Damit lie­gen sie über dem Durch­schnitt. 19 % der Kin­der und Jugend­li­chen unter acht­zehn Jah­ren sind arm. In der Alters­gruppe der 18- bis unter 25-Jäh­ri­gen trifft das sogar auf jeden vier­ten jun­gen Erwach­se­nen zu. Am höchs­ten ist die Armuts­rate nach wie vor unter den Arbeits­lo­sen: 57,6% – unter den Beschäf­tig­ten sind es immer noch skan­da­löse 7,5%. Nach den Arbeits­lo­sen sind Allein­er­zie­hende am stärks­ten betrof­fen, mit 42 Prozent.

Der­ar­tige Zah­len rüt­teln an der ver­brei­te­ten Vor­stel­lung, in Deutsch­land blühe die Wirt­schaft. Das stört. Folg­lich wer­den die Zah­len im Armuts­be­richt unver­züg­lich von Poli­tik, Wis­sen­schaft und Medien ange­zwei­felt. Die FAZ vom 21. Februar: „Nie gab es in Deutsch­land so viele Erwerbs­tä­tige wie heute. Die Löhne stei­gen dank üppi­ger Tarif­ab­schlüsse auf brei­ter Front. Die Unter­neh­men kön­nen sich das leis­ten, weil sie blen­dende Geschäfte machen. Der pri­vate Kon­sum kennt kaum noch Gren­zen.“ Aber:
„Ein sta­tis­ti­scher Trick macht es mög­lich, dass die Armut auf dem Papier zunimmt, obwohl sich die Lebens­ver­hält­nisse in Wirk­lich­keit seit Jah­ren güns­tig ent­wi­ckeln.“ Die amt­li­che Methode der Defi­ni­tion von Armut ent­spre­chend EU-Kon­ven­tion, wonach als rela­tiv arm („armuts­ge­fähr­det“) gilt, wer ein Ein­kom­men hat, das weni­ger als 60 Pro­zent des mitt­le­ren Ein­kom­mens (Median) beträgt, wird von der bür­ger­li­chen Presse zum Trick umge­deu­tet.
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In Vor­ah­nung sol­cher Angriffe ver­weist der Bericht auf die sta­tis­ti­schen Beson­der­hei­ten die­ser Methode der Berech­nung des mitt­le­ren Ein­kom­mens. „Beim mitt­le­ren Ein­kom­men han­delt es sich nicht um das geläu­fige Durch­schnitts­ein­kom­men. Die­ses wird ermit­telt, indem man alle Haus­halts­ein­kom­men addiert und die Summe dann durch die Anzahl der Haus­halte teilt (arith­me­ti­sches Mit­tel). Es wird statt­des­sen der soge­nannte Median, der mitt­lere Wert, errech-
net: Alle Haus­halte wer­den nach ihrem Ein­kom­men der Reihe nach geord­net, wobei das Ein­kom­men des Haus­halts in der Mitte der Reihe den Mit­tel­wert dar­stellt. Der Unter­schied zwi­schen arith­me­ti­schem Mit­tel und Median kann sehr groß sein. Ein Bei­spiel: Ver­fü­gen fünf
Haus­halte jeweils über ein Ein­kom­men von 700 Euro, 1.300 Euro, 1.900 Euro, 6.500 Euro und 9.000 Euro, so haben sie im Durch­schnitt (700 + 1.300 + 1.900 + 6.500 + 9.000) : 5 = 3.880 Euro. Der mitt­lere Wert (Median) wäre jedoch 1.900 Euro.“ Die mit dem Median errech­nete Armuts­schwelle und die sich davon ablei­ten­den Armuts­quo­ten blei­ben damit eini­ger­ma­ßen sta­bil, auch wenn die Haus­halte der obe­ren Ränge immer rei­cher wer­den. „Solange der Haus­halt in der Mitte der Rang­reihe kei­nen Ein­kom­mens­zu­wachs hat, hat dies kei­ner­lei Ein­fluss auf die Armuts­quo­ten. “
Warum diese Unter­schei­dung getrof­fen wird? Der erste Armuts­be­richt der Bun­des­re­gie­rung aus dem Jahre 2001 wies, so schrei­ben die Wohl­fahrt­ver­bände in ihrem Bericht, noch beide Armuts­quo­ten aus, sowohl die mit dem arith­me­ti­schen Mit­tel als auch die mit dem Median errech­nete. Dabei lag die ers­tere mit 10,2 % deut­lich höher als die letz­tere mit 6,2 %.
Seit­dem wird nur noch der Median aus­ge­wie­sen. So ver­mei­det die Bun­des­re­gie­rung weit ungüns­ti­gere Zah­len sowie die Schluss­fol­ge­rung, dass Umver­tei­lungs­maß­nah­men gegen die Armut fäl­lig wären. Und sie hofft auf unser schwa­ches Gedächt­nis. Denn die Armut ist nicht vom Him­mel gefal­len. Sie wurde auf Euro­pa­ebene vor­be­rei­tet. Nach­zu­le­sen im „Amts­blatt der Euro­päi­schen Gemein­schaf­ten» vom 16. Juli 1998, Seite L 20034 bis 44. Unter­ti­tel: „Nicht ver­öf­fent­li­chungs­be­dürf­tige Rechts­akte». Über­schrift: „Emp­feh­lung des Rates vom 6. Juli 1998 über die Grund­züge der Wirt­schafts­po­li­tik der Mit­glied­staa­ten und der Gemein­schaft (98/454/EG)“. Dann heißt es im Text: „Die Sozi­al­sys­teme müs­sen refor­miert wer­den, um den Anreiz zur Arbeits­auf­nahme und die Gele­gen­hei­ten wie auch die Ver­ant­wor­tung dafür zu erhö­hen sowie die Funk­ti­ons­weise des Arbeits­markts all­ge­mein zu ver­bes­sern. Dies bedeu­tet eine Umstel­lung von Sys­te­men der pas­si­ven Ein­kom­mens­si­che­rung auf Sys­teme, die Sozi­al­leis­tun­gen von einer Erwerbs­tä­tig­keit abhän­gig machen.» Etwas dras­ti­scher hat es Bodo Hom­bach als Chef des Bun­des­kanz­ler­am­tes, einige Tage nach der für die SPD sieg­rei­chen Bun­des­tags­wahl, aus­ge­drückt (SPIE­GEL 5. Okto­ber 1998). Er wollte den „Abschied vom Sozi­al­staat alten Typs“, erkannte die „geringe Erwerbs­nei­gung“ von Arbeits­lo­sen und fol­gerte, dass sozi­al­staat­li­che Trans­fer­leis­tun­gen die Pha­sen der Erwerbs­lo­sig­keit ver­län­gern, weil sie die Sub­ven­ti­ons­men­ta­li­tät ver­fes­ti­gen. „Der Sozi­al­staat, bis­her als Netz ver­stan­den, muß künf­tig als Tram­po­lin wir­ken – als eine Absprungs­mög­lich­keit in den regu­lä­ren Arbeits­markt.» Das Bild vom Tram­po­lin wurde spä­ter von Schrö­der über­nom­men.
Der eine oder andere wird sich noch an das Schrö­der-Blair-Papier vom Juni 1999 erin­nern. Es gilt als Blau­pause der Agenda 2010, die von Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der am 14. März 2003 ver­kün­det wurde und Hartz IV zur Folge hatte. Die Armut ist poli­tisch gewollt und geplant.
Die Wohl­fahrts­ver­bände pla­nen für den 7. und 8. Juli 2016 einen gro­ßen armuts­po­li­ti­schen Kon­gress in Ber­lin. Mit­ver­an­stal­ter DGB.
Klaus Stein

aus der UZ vom 4. März 2016

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