Anmer­kun­gen zum 8. Mai 2015, dem 70. Jah­res­tag der Befrei­ung vom Faschismus

In Köln ist anläß­lich des 70. Jah­res­ta­ges der Befrei­ung vom Faschis­mus wird von einem Bünd­nis, das sich zu die­sem Zweck gebil­det hat, eine Demons­tra­tion geplant. Sie soll am Sams­tag, den 9. Mai vom Hans-Böck­ler-Platz, am El-De-Haus und dem Deser­teurs­denk­mal zur Dom­platte füh­ren. Für die Kund­ge­bun­gen vor und nach dem Ende der Demons­tra­tion hat sich das Bünd­nis zunächst auf The­men geei­nigt, noch nicht auf Red­ne­rIn­nen. Es sind:

  • Frie­dens­po­li­tik aktu­ell (u.a. die Ent­wick­lung in der Ukraine),
  • der anti­fa­schis­ti­sche Widerstand,
  • der Zusam­men­hang von Krise, Krieg und Faschis­mus sowie
  • die Erör­te­rung der Frage, ob der 8. Mai der Tag der Nie­der­lage, des Kriegs­en­des oder der Befrei­ung war

Mit der letz­ten will ich mich hier kurz beschäftigen. 

Der Tod von Richard von Weiz­sä­cker (* 1920) am 31. Januar 2015 hat die Rede, die er als Bun­des­prä­si­dent (1984−1994) am 8. Mai 1985 vor dem Bun­des­tag gehal­ten hat, in Erin­ne­rung geru­fen.
Er stellte gewis­ser­ma­ßen die Eingangsfrage: 

„Sieg oder Nie­der­lage, Befrei­ung von Unrecht und Fremd­herr­schaft oder Über­tra­gung zu neuer Abhän­gig­keit, Tei­lung, neue Bünd­nisse, gewal­tige Macht­ver­schie­bun­gen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von ent­schei­den­der his­to­ri­scher Bedeu­tung in Europa.“ 

Der Kern der Ant­wort lau­tete:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befrei­ung. Er hat uns alle befreit von dem men­schen­ver­ach­ten­den Sys­tem der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft.
Nie­mand wird um die­ser Befrei­ung wil­len ver­ges­sen, wel­che schwe­ren Lei­den für viele Men­schen mit dem 8. Mai erst began­nen und danach folg­ten. Aber wir dür­fen nicht im Ende des Krie­ges die Ursa­che für Flucht, Ver­trei­bung und Unfrei­heit sehen. Sie liegt viel­mehr in sei­nem Anfang und im Beginn jener Gewalt­herr­schaft, die zum Krieg führte.
Wir dür­fen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Eine sol­che Deu­tung des 8. Mai durch den ers­ten Reprä­sen­tan­ten der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist nur vor dem Hin­ter­grund der mas­sen­haf­ten Frie­dens­be­we­gung der acht­zi­ger Jahre rich­tig zu bewer­ten. Die über­große Mehr­heit der Men­schen lehnte die Sta­tio­nie­rung von ato­mar bestück­ten Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten Pers­hing II und die Marsch­flug­kör­per Cruise Mis­sile ab. Den Beschluss dazu hatte die NATO am 12. Dezem­ber 1979 gefasst. Er wurde NATO-Dop­pel­be­schluss genannt Gegen ihn rich­tete sich der Appell, den eine Kon­fe­renz in Kre­feld im Novem­ber 1980 beschlos­sen hatte. Schon nach sechs Mona­ten hat­ten rund 800.000 Men­schen die­sen Kre­fel­der Appell unter­schrie­ben. Bis 1983 waren vier Mil­lio­nen Bun­des­bür­ger. Am 10. Okto­ber 1981 demons­trier­ten im Bon­ner Hof­gar­ten mehr als 300.000 Men­schen gegen die Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten­sta­tio­nie­rung. Anläss­lich eines Staats­be­su­ches von US-Prä­si­dent Ronald Rea­gan fan­den am 10. Juni 1982 eine Frie­dens­de­mons­tra­tion auf den Bon­ner Rhein­wie­sen mit 400.000 und am 11. Juni eine wei­tere in Ber­lin mit 80.000 Men­schen statt. Am 22. Okto­ber 1983 demons­trier­ten im Hof­gar­ten über eine halbe Mil­lion. Drei Mil­lio­nen Men­schen betei­lig­ten sich an Frie­dens­ak­tio­nen in der Woche vor die­sem Datum. Die Oster­mär­sche mobi­li­sier­ten 1981 bis 1984 regel­mä­ßig Hun­dert­tau­sende in zahl­rei­chen Städ­ten und Regio­nen Westdeutschlands.

Weiz­sä­cker äußerte sich übri­gens in sei­ner Rede auch über Gor­bat­schow, der erst am 11. März 1985, einige Wochen vor­her, als Nach­fol­ger von Kon­stan­tin Tscher­nenko, mit 54 Jah­ren zum zweit­jüngs­ten Gene­ral­se­kre­tär in der Geschichte der KPdSU gewählt wor­den war. Auf ihm lagen sei­ner­zeit große Hoff­nun­gen bezüg­lich Frie­den und Abrüs­tung. Gor­bat­schow habe ver­laut­bart, es ginge der sowje­ti­schen Füh­rung beim 40. Jah­res­tag des Kriegs­en­des nicht darum, anti­deut­sche Gefühle zu schü­ren. Die Sowjet­union trete für Freund­schaft zwi­schen den Völ­kern ein. Weiz­sä­cker: „Gerade wenn wir Fra­gen auch an sowje­ti­sche Bei­träge zur Ver­stän­di­gung zwi­schen Ost und West und zur Ach­tung von Men­schen­rech­ten in allen Tei­len Euro­pas haben, gerade dann soll­ten wir die­ses Zei­chen aus Mos­kau nicht über­hö­ren. Wir wol­len Freund­schaft mit den Völ­kern der Sowjetunion.“

Den­noch bezog sich Weiz­sä­cker auch auf jene Men­schen, die die­sen Tag als den Tag der Nie­der­lage emp­fun­den haben. Diese Les­art war die bis dahin übli­che in der Bundesrepublik. 

„Wir haben wahr­lich kei­nen Grund, uns am heu­ti­gen Tag an Sie­ges­fes­ten zu betei­li­gen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irr­we­ges deut­scher Geschichte zu erken­nen, das den Keim der Hoff­nung auf eine bes­sere Zukunft barg.“

„Wir kön­nen des 8. Mai nicht geden­ken, ohne uns bewußt zu machen, wel­che Über­win­dung die Bereit­schaft zur Aus­söh­nung den ehe­ma­li­gen Fein­den abver­langte. Kön­nen wir uns wirk­lich in die Lage von Ange­hö­ri­gen der Opfer des War­schauer Ghet­tos oder des Mas­sa­kers von Lidice ver­set­zen?
Wie schwer mußte es aber auch einem Bür­ger in Rot­ter­dam oder Lon­don fal­len, den Wie­der­auf­bau unse­res Lan­des zu unter­stüt­zen, aus dem die Bom­ben stamm­ten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefal­len waren! Dazu mußte all­mäh­lich eine Gewiß­heit wach­sen, daß Deut­sche nicht noch ein­mal ver­su­chen wür­den, eine Nie­der­lage mit Gewalt zu korrigieren.“

Wei­tere Zitate aus die­ser Rede:
„Vier Jahre nach Kriegs­ende, 1949, am 8. Mai, beschloß der Par­la­men­ta­ri­sche Rat unser Grund­ge­setz. Über Par­tei­gren­zen hin­weg gaben seine Demo­kra­ten die Ant­wort auf Krieg und Gewalt­herr­schaft im Arti­kel 1 unse­rer Ver­fas­sung:
‚Das deut­sche Volk bekennt sich darum zu unver­letz­li­chen und unver­äu­ßer­li­chen Men­schen­rech­ten als Grund­lage jeder mensch­li­chen Gemein­schaft, des Frie­dens und der Gerech­tig­keit in der Welt.’
Auch an diese Bedeu­tung des 8. Mai gilt es heute zu erinnern.“

„Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist ein welt­weit geach­te­ter Staat gewor­den. Sie gehört zu den hoch­ent­wi­ckel­ten Indus­trie­län­dern der Welt. Mit ihrer wirt­schaft­li­chen Kraft weiß sie sich mit­ver­ant­wort­lich dafür, Hun­ger und Not in der Welt zu bekämp­fen und zu einem sozia­len Aus­gleich unter den Völ­kern beizutragen.“

„- Wenn wir uns erin­nern, wie ras­sisch, reli­giös und poli­tisch Ver­folgte, die vom siche­ren Tod bedroht waren, oft vor geschlos­se­nen Gren­zen ande­rer Staa­ten stan­den, wer­den wir vor denen, die heute wirk­lich ver­folgt sind und bei uns Schutz suchen, die Tür nicht ver­schlie­ßen.“
In die­sem Zusam­men­hang ist an Gün­ter Grass zu erin­nern, der ges­tern gestor­ben ist. Er trat wegen ihres Bei­trags zur Abschaf­fung des Asyl­rechts im Jahre 1993 aus der SPD.

Offen­kun­dig könnte eine Rede wie die von Weiz­sä­cker vom 8. Mai 1985 heute nicht mehr gehal­ten wer­den. Den­ken wir nur an die Appelle von Gauck, der anläß­lich der Eröff­nung der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz am 31. Januar die­sen Jah­res wie­der mal von der neuen Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands schwa­dro­nierte. Unter ande­rem sagte er: „Das Prin­zip der staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät und der Grund­satz der Nicht­ein­mi­schung dür­fen gewalt­tä­tige Régime nicht unan­tast­bar machen. Hier setzt das ‚Kon­zept der Schutz­ver­ant­wor­tung’ an: Es über­trägt der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft den Schutz der Bevöl­ke­rung vor Mas­sen­ver­bre­chen, wenn der eigene Staat diese Ver­ant­wor­tung nicht über­nimmt. Als äußers­tes Mit­tel ist dann der Ein­satz von Mili­tär mög­lich, und zwar nach sorg­fäl­ti­ger Prü­fung und nach Fol­gen­ab­wä­gung sowie Ermäch­ti­gung durch den Sicher­heits­rat der Ver­ein­ten Natio­nen.
Ich weiß, und ich leide wie viele Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger in der gan­zen Welt daran, dass nicht über­all dort ein­ge­grif­fen wird, wo es ethisch, zum Schutz von Leib und Leben bedroh­ter Men­schen, gebo­ten wäre. Im Fall Syrien hat sich die­ses Dilemma jüngst wie­der gezeigt.“

Hier fin­det die Aggres­si­vi­tät des Impe­ria­lis­mus ihren durch Men­schen­rechts­dem­ago­gie nur not­dürf­tig ver­hüll­ten Aus­druck. Inner­halb der letz­ten drei­ßig Jahre wur­den die glo­ba­len Frie­dens­kräfte durch den Zusam­men­bruch des sozia­lis­ti­schen Lagers ent­schei­dend geschwächt. Sel­ten war die Gefahr eines gro­ßen Krie­ges so hoch wie gegen­wär­tig.
Der Auf­ruf des Bünd­nis­ses für den 9. Mai endet mit der Losung „Nie wie­der Krieg – nie wie­der Faschis­mus!“.
Klaus Stein, 14. April 2015